Fotos und ihr grausamer Hintergrund

In über 18 Monaten Forschungsarbeit haben Historikerinnen und Historiker von #LastSeen hunderte Fotos der NS-Deportationen aus mehr als 60 Orten gesammelt, darunter auch bislang unbekannte Bilder. In einer aufwendigen Recherche hat das Team Informationen über Verfolgte, die Täterinnen und Täter sowie die Orte und Abläufe der Deportationen zusammengetragen. Alle Ergebnisse sind jetzt in einem digitalen Bildatlas zu sehen. Damit wird das Wissen über die Vorbereitung des industriellen Massenmords an Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma erweitert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Projekt #LastSeen ist eine Initiative von fünf Forschungsinstitutionen aus Deutschland und den USA. 

Neue Bildfunde und Informationen über Personen auf den Bildern 

Ein Beispiel für einen bedeutenden Neufund sind Aufnahmen einer Deportation aus Halberstadt in Sachsen-Anhalt. Durch den Kontakt zu Nachkommen von Deportierten, die heute in den USA leben, stieß das #LastSeen-Team auf zwei bisher weitgehend unbekannte Fotos. Hinweise aus der Familie halfen dabei, fünf darauf abgebildete Personen zu identifizieren. Am 12. April 1942 wurden 106 Halberstädter Jüdinnen und Juden ins Warschauer Ghetto deportiert. Niemand kehrte zurück. 

Außergewöhnlich sind auch Fotografien aus Bremen, die im Bildatlas erstmals digital veröffentlicht werden. Es sind die einzigen bisher bekannten Bilder, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von Tätern, sondern von Angehörigen fotografiert wurden und deshalb das Geschehen aus einer anderen Perspektive zeigen. 

Auch auf Bildern einer der wohl bekanntesten Bildserien, die die Deportation der Münchener Jüdinnen und Juden am 20. November 1941 nach Kaunas dokumentiert, gelang es dem #LastSeen-Team in Zusammenarbeit mit dem Münchner Stadtarchiv, weitere Personen zu identifizieren: Zu Ihnen zählen Gertrud Cahn und ihre Tochter Judis, die mit nur einem Jahr das jüngste Kind unter den knapp 1.000 an diesem Tag aus ihrer Heimatstadt verschleppten Menschen war. 

Digitale Präsentation der Ergebnisse – weltweit zugänglich 

Im digitalen Bildatlas ist die Fotosammlung mit Hilfe verschiedener Filter und über eine Karte durchsuchbar. Per Mausklick lassen sich zahlreiche Detailinformationen abrufen: Wer ist auf den Fotos abgebildet? Welches Schicksal mussten die Verfolgten erleiden? Was ist über den historischen Kontext bekannt? Wer hat fotografiert? 

Projektleiterin Dr. Alina Bothe unterstreicht die Bedeutung der Bilder: „Die Fotografien belegen, dass die NS-Deportationen öffentlich sichtbar und an vielen Orten im Deutschen Reich stattfanden. Unsere Forschung zeigt, dass es bis heute noch unbekannte und kaum erschlossene Bilder gibt.“ 

Der Bildatlas wird laufend weiter ausgebaut. Aktuell sind es bereits 33 Bildserien und 230 Biografien abrufbar, die zum einen der Erinnerung dienen und zum anderen Anknüpfungspunkte für Bildungsprojekte sind. 

Für Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives und #LastSeen-Projektpartner, sind die Fotos auch ein Schlüssel für die Gegenwart: „Wir alle wissen, wie wichtig Bilder sind, um sich etwas vorzustellen und zu verstehen. Die Deportationsfotos können ein sehr wirkungsvoller Zugang zu essenziellen Fragen unserer Verantwortung heute sein.“ 

Entdeckungsspiel – Geschichte selbstständig erschließen 

Begleitend wurde ein interaktives Entdeckungsspiel entwickelt, das jungen Menschen ab 16 Jahren einen altersgerechten Zugang zum Thema NS-Deportationen bietet. In der Rolle einer Journalistin oder eines Journalisten suchen sie auf einem virtuellen Dachboden nach Informationen für einen Blogartikel über eine Deportation. Anhand von Fotos, Dokumenten, Notizen und Gegenständen rekonstruieren die Jugendlichen, wie die Deportation von Jüdinnen und Juden zum Beispiel aus der thüringischen Stadt Eisenach im Mai 1942 verlief. 

#LastSeen wird von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) im Rahmen der Bildungsagenda NS-Unrecht gefördert. Dr. Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der EVZ, betont den Wert der Forschung für junge Generationen: „Die Deportationsfotos machen das Schicksal der Verfolgten sichtbar, vermitteln historische Fakten und fordern dazu heraus, Fragen aus der Geschichte auf die Gegenwart anzuwenden. Unsere MEMO-Jugendstudie zeigt, dass visuelle Inhalte von jungen Menschen in Bildungsmaterialien zur NS-Geschichte als besonders sinnvoll bewertet werden.“ 

Forschungsprojekt wird fortgesetzt 

Das Forschungsprojekt #LastSeen soll fortgesetzt werden. Im Mittelpunkt der kommenden Projektphase wird die Ausweitung der Recherche auf die Krankenmorde stehen. Außerdem sollen im nächsten Schritt Bilder und Informationen zu den Deportationen aus Österreich und dem Sudetengebiet zusammengetragen werden.